Zur Freude über das aktuelle Urteil des EuGH zu Lasten Googles besteht kein Anlass. Das EU-Gericht stellt mit seinem Urteil vielmehr den bislang geltenden Grundsatz der Meinungsfreiheit auf den Kopf: Nicht mehr soll grundsätzlich die Verbreitung jeder Art von Meinung und Information frei und nur in Ausnahmefällen verboten, sondern vielmehr nur noch dann erlaubt sein, wenn ausnahmsweise das Interesse einer breiten Öffentlichkeit überwiegt. Unter dem Vorwand des Datenschutzes könnte es damit Behörden zukünftig möglich sein, echte Zensur zu üben. Dass das bestehende Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Meinungsfreiheit in dieser Weise einseitig zu Lasten der Informationsfreiheit gelöst werden soll, ist vor dem Hintergrund der geplanten Ausweitung des EU-Datenschutzes besonders bedenklich. Das ausgerechnet von denjenigen, die sich für die schnelle Verabschiedung dieses Entwurfes einsetzten, das Problem offensichtlich entweder nicht erkannt oder aber die negativen Folgen für die Informationsfreiheit akzeptiert werden, ist ebenfalls hoch problematisch. Einen verantwortungsvolle politische Auseinandersetzung mit diesem Thema aber wäre im allgemeinen Interesse – selbst wenn man einen Konzern wie Google nicht mag.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in der Rechtssache C‑131/12 am 13.5.2014 unter Bezugnahme auf das europäische Datenschutzrecht – abweichend vom Votum des Generalanwaltes – Google dazu verpflichtet, Suchergebnisse auf Anordnung der Datenschutzbehörde über den in diesem Fall Betroffenen selbst dann zu löschen, wenn der ihn betreffende Artikel in der Tageszeitung inhaltlich eigentlich legal und auch sonst unter presserechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden ist. Der für die Reform des Datenschutzrechtes im europäischen Parlament verantwortliche Berichterstatter, der EP-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht (Grüne), hat dieses Urteil sofort uneingeschränkt begrüßt:
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, auch Suchmaschinen wie Google bei der Einhaltung des Datenschutzes in die Verantwortung zu nehmen, ist zu begrüßen. Das heutige Urteil stellt klar, dass Suchmaschinenbetreiber für die Verarbeitung personenbezogener Daten verantwortlich sind, auch wenn diese Daten aus öffentlichen Quellen stammen. Daher können die Betroffenen auch hier ein Recht auf Löschung in Anspruch nehmen. Der EuGH macht auch deutlich, dass die Verknüpfung öffentlich verfügbarer Informationen zu einer Art Personenprofil einen neuen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte darstellt. Mit dem Urteil wird auch klargestellt, dass europäisches Datenschutzrecht dann gilt, wenn ein Datenverarbeiter sich auf dem Europäischen Markt bewegt. Nun kommt es darauf an, durch die Schaffung einer einheitlichen EU-Datenschutzverordnung auch die Durchsetzung in allen Bereichen zu stärken. Hier müssen die Regierungen auf dem nächsten Innen- und Justizministerrat im Juni endlich liefern.
Diese erwartbare Reaktion, wie auch viele ähnliche öffentliche Kommentare in der Tagespresse und auf einigen Blogs, offenbaren jedoch, dass das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Meinungsfreiheit, das mit diesem Urteil sehr deutlich hervortritt, entweder noch gar nicht erkannt wurde oder aber völlig einseitig auf Kosten der Informations- und Meinungsfreiheit gelöst werden soll. Sie weist damit auf ein grundlegendes Problem hin, das dringend der eingehenden politischen Diskussion und einer angemesseneren gesetzgeberischen Klärung bedarf, als im Moment erkennbar ist:
Dass Google sich an europäischen Datenschutz halten muss und sich nicht hinter der Behauptung verstecken kann, Google Search als US-Unternehmen zu betreiben, ist rechtlich nicht problematisch. Auch nicht der Schluss des Gerichts, dass es sich bei der Erstellung der Trefferliste um das Ergebnis einer eigenständigen Datenverarbeitung handelt, die Google hier vornimmt und die daher einer eigenständigen rechtlichen Bewertung unterliegen kann. Dass Google zudem selbst als nicht-verantwortlicher „Störer“ zur Löschung von Treffern unter bestimmten Umständen verpflichtet sein kann, ist auch keine Neuigkeit. Schließlich ebenso nicht, dass Suchmaschinen nach überwiegender Ansicht wegen fehlender journalistisch-redaktioneller Tätigkeit datenschutzrechtlich nicht wie Medien privilegiert sind.
Problematisch jedoch ist, dass es – anders als nach den unter deutschem Recht bislang geltenden Prinzipien der Inanspruchnahme von Google – nunmehr auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Information, auf die die Suchmaschine verweist, überhaupt nicht mehr ankommen und es zudem einer staatlichen Behörde erlaubt sein soll, die Auffindbarkeit jedweder Art von personenbezogenen Informationen zu untersagen. Wohlgemerkt: Google wird nicht – z.B. in Folge des Urteils eines Gerichts, das auf Betreiben des Betroffenen erlassen wird und in dem die Rechtswidrigkeit der Verbreitung festgestellt wird – zur Löschung eines Eintrages verpflichtet, sondern schon deswegen, weil eine Behörde (!) darin einen Verstoß gegen des Datenschutz erkennt, die Ausgangsmitteilung aber rechtmäßig war und immer noch ist.
„der Suchmaschinenbetreiber [ist] zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind, dazu verpflichtet […], von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Internetseiten nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig ist.“
Begründet wird dieses vom EuGH u.a. damit, dass wegen der Funktion einer Suchmaschine ein Persönlichkeitsprofil des Betroffenen entstehen würde, für das es – anders als bei dem Autor bzw. Verbreiter der Information – keine eigenständige Rechtfertigung gäbe, obwohl es einer solchen „Ausnahme“ von der Regel bedürfe. Diese Auffassung des Gerichtshofs widerspricht m.E. aber der eigentlich klaren Botschaft des Artikel 11 der europäischen Grundrechtecharta:
Artikel 11
Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
(2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralit‰t werden geachtet.
Anders als das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG), nimmt der EuGH auch keine Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechten vor, sondern billigt dem Suchmaschinenbetreiber eine direkte Berufung auf die Meinungsfreiheit offensichtlich überhaupt nicht zu und somit einen regelmäßigen Vorrang des Datenschutzrechts, dem nur noch in bestimmten Ausnahmefällen ein Überwiegen des öffentlichen Informationsinteresses entgegen stehen soll. Der Löschungsanspruch soll dabei sogar selbst dann gelten, wenn die Information für den Betroffenen gar keinen Schaden darstellt.
„im Rahmen der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen dieser Bestimmungen [ist] u. a. zu prüfen […], ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, wobei die Feststellung eines solchen Rechts nicht voraussetzt, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, überwiegen diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist.“
Damit stellt der EuGH jedoch einen bislang geltenden Grundsatz der Meinungsfreiheit auf den Kopf: Nicht mehr soll grundsätzlich die Verbreitung jeder Art von Information frei und nur in Ausnahmefällen verboten sein, sondern vielmehr – wenigstens Suchmaschinen – nur noch dann erlaubt sein, wenn ausnahmsweise (!) das Interesse einer breiten Öffentlichkeit überwiegt.
Das zu beurteilen aber wird zunächst der „verantwortlichen“ Suchmaschine überlassen, wogegen sich der Betroffene im Falle einer Weigerung aber „an die Kontrollstelle oder das zuständige Gericht wenden“ können soll, „damit diese die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Verantwortlichen entsprechend anweisen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen“. Sprich: Die Datenschutzbehörde darf zukünftig auch die Grenzen der Meinungsfreiheit nach eigenem Ermessen bestimmen.
Dass der EuGH mit dieser Rechtsprechung fundamental den Grundsätzen der Abwägung widerspricht, die das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bislang zugunsten der Meinungs- und Informationsfreiheit angewendet haben, haben diejenigen, die dieses Urteil so uneingeschränkt begrüßen, offensichtlich dabei gar nicht erkannt – oder ein „Recht auf Vergessen“ ist ihnen schlicht wichtiger, als das Recht der freien Rede – und auch die negativen Folgen für die Informationsfreiheit, die sich daraus ergeben können, sind ihnen eher egal.
Dass sich unter dem bisherigen Stand des Entwurfes der Datenschutzgrundverordnung der EU dieses Problem in einer angemesseneren Weise als in dem EuGH-Urteil für die Zukunft lösen würde, ist zudem nicht zu erwarten. Vielmehr geht der unbedingte Löschungsanspruch, das „Recht auf Vergessen“, dort sogar noch über das bisherige Recht hinaus. Auch lassen alle Äußerungen, etwa von Jan Philipp Albrecht, zu diesem Thema nicht erkennen, dass die Sensibilität des Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit durchdrungen und die diesbezüglichen Mängel des Entwurfes erkannt worden wären. Eine ernsthafte Auseinandersetzung, wie man gesetzgeberisch verantwortungsvoll damit umgehen will, findet in der „Datenschutz-Community“ bislang auch sonst nicht statt. Statt dessen wird immer wieder nur eine „schnelle Verabschiedung“ der Verordnung in ihrer problematischen Form gefordert und jegliche Diskussion über eine Lösung der dann fortgeschrieben rechtlichen Probleme des Datenschutzrechtes als Versuch einer „Verwässerung“ oder „Spaltung“ oder gar des Lobbyismus zugunsten von Google zu diskreditieren versucht. Nur eines muss jedem klar sein: In dem Moment, wo eine derart problematische Verordnung der EU im Gesetzblatt veröffentlicht würde, wäre es auch auf nationaler Ebene nicht mehr möglich, Fehlurteile wie das des EuGH z.B. mit abweichenden grundrechtlichen Abwägungen zu korrigieren.
Wer aber nicht glauben mag, dass eine einseitige und unausgewogene Stellungnahme etwa für ein „Recht auf Vergessen“ eben nicht nur problematische Auswirkungen auf einen Konzern wie Google haben kann, sondern selbst auf Community-Projekte wie die Wikipedia, dem sei der aktuelle Vortrag von Thorsten Feldmann dringend zur Anschauung empfohlen. Selbst wenn man nicht – wie es Thomas Stadler tut - dieses Urteil mit der Idee der „Netzsperren“ gleichsetzen will: In der Tat könnte davon in der Praxis die gleiche Wirkung ausgehen. Damit aber würde sich ein so verstandener Datenschutz nicht als Instrument zur Stärkung der Freiheit des Individuums erweisen, sondern vielmehr vor allem als Einschränkung des Rechts auf ungehinderte Information und zugleich als tiefer Einschnitt in eines der konstitutiven Freiheitsrechte unserer Demokratie schlechthin.
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[…] in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Die Bewertung des Gerichts fällt überraschend eindeutig und einseitig aus: Das Recht des Betroffenen auf Datenschutz geht den wirtschaftlichen Interessen der […]